Zigarrenfabrikation in Pohlheim
Seit 1883 bis Ende der 1960er Jahre gab es in Garbenteich, Hausen und Watzenborn-Steinberg Zigarrenfabriken. Für Mädchen und Frauen aus den armen Bauernfamilien war die Fabrik- oder Heimarbeit eine Möglichkeit für einen dringend benötigten Zuverdienst. Der Tabak kam aus Übersee.
Ab Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Gießen zu einem Zentrum der Tabakverarbeitung. 1840 wurde die Gail´sche Tabakfabrik in Gießen, 1895 die Firma Rinn & Cloos in Heuchelheim gegründet. Die Zigarren wurden in alle Welt exportiert.
Die Herstellung von Zigarren geschah in Handarbeit und war sehr personalintensiv. Da die Männer Ende des 19. Jahrhunderts die besser bezahlte Arbeit in der neuen Industrie vorzogen, richteten die Hersteller auf der Suche nach Arbeitskräften ihren Blick in das Gießener Umland und gründeten Filialen vor Ort.
In den Fabriken arbeiteten meist Frauen. Direkt nach der Schule konnten sie nach nur kurzer Anlernzeit schnell zum Familieneinkommen beitragen. Der Arbeitstag in der Fabrik dauerte in der Regel von 8 bis 12 und von 13 bis 17 Uhr.
Wenn sich die Frauen um Kinder oder Angehörige kümmern mussten, konnten sie in Heimarbeit weiterarbeiten. Auch auf saisonale landwirtschaftliche Arbeiten wurde Rücksicht genommen.
„Im Oktober 49 sind wir aus der Schule gekommen. Dadurch dass wir fünf Kinder waren, war das klar, die Mutter sagte ‚Du gehst in die Fabrik‘.“
„Die Fabrik war ja in der Ludwigstraße, das war ja gar nicht weit von uns entfernt. Da konnte man auch leicht hinkommen.“
Zwei Freundinnen aus Watzenborn-Steinberg, Interview 2020
Die Fabriken in Hausen, Garbenteich und Watzenborn-Steinberg
Ab 1883 wurden in Pohlheim die ersten Zigarrenfabriken eröffnet. Die beiden größeren Fabriken in Hausen und in Watzenborn-Steinberg wurden um die Jahrhundertwende von Rinn & Cloos übernommen. Sie schlossen erst 1967. Kleinere unabhängige Fabriken wie Heller in Garbenteich konnten sich meist nur kurze Zeit behaupten.
In Holzheim, Dorf Güll und Grüningen gab es keine Zigarrenfabriken. Dort arbeiteten dennoch auch Frauen in Heimarbeit, vermutlich für Rinn & Cloos in Watzenborn-Steinberg.
Gegründet wurde die Zigarrenfabrik 1899 von Ludwig II. Haas im Hinterhaus der damaligen Gartenstraße, heute An den Gärten 7. Zehn Arbeiterinnen arbeiteten hier, erinnert sich Enkelin Irene Schäfer. Schwiegersohn Georg Burk, der von Haas die Leitung übernahm, war der erste gewählte Bürgermeister von Watzenborn-Steinberg nach dem zweiten Weltkrieg.
Das Fabrikgebäude wurde 1895 von Christoph Kessler & Comp. errichtet. 1904 kaufte es die Heuchelheimer Firma Rinn & Cloos und produzierte hier noch bis 1967 Zigarren. Zeitweise waren hier bis zu 250 Frauen beschäftigt. Das Gebäude in der Ludwigstraße 82 existiert heute noch.
Foto: Stadtarchiv Pohlheim
Im Brunnenweg 1 (damals Borngasse) hatte die Heuchelheimer Firma Busch und Mylius ab 1886 eine Filiale. Die Fabrik wechselte mehrfach den Besitzer, zuletzt gehörte sie Adolf Stork. 1969 erwarb die Gemeinde Watzenborn-Steinberg das Geäbude. 1972 wurde es abgerissen.
Ein Straßenmeister namens Bischoff aus Gießen errichtete 1897 das markante Backsteingebäude am Ortseingang von Hausen, in der Garbenteicher Straße.
Schon drei Jahre später verkaufte Bischoff die Fabrik an die Firma Rinn & Cloos. Nach Hausen kamen auch viele Frauen aus dem benachbarten Orten Steinbach, Annerod und Albach. Es ist überliefert, dass der Zigarrenmeister mit seiner Familie im Erdgeschoß wohnte. Heute dient das Gebäude als Wohnhaus.
Pohlheim-Garbenteich, Schiffenbergstraße 25
Pohlheim-Garbenteich, Watzenborner Straße 25
Die Währungskrise war im vollen Gang, dar versuchte der Garbenteicher Heller sein Glück mit der Gründung einer kleinen Zigarrenfabrik.
Hinter dem Wohnhaus in der Steinbacher-Straße befindet sich heute noch ein Anbau, in dem produziert wurde. Seine Zigarren brachte er unter dem Namen „Gehelga“ auf den Markt. Die Fabrik ging in den 50er Jahren in die Insolvenz, nachdem ein Schiff mit einer Ladung Tabak auf dem Weg nach Europa gesunken war.
Rinn & Cloos, Heuchelheim
Der Briefkopf aus dem Jahr 1908 zeigt die großen Filialen der in Gießen ansässigen Fabrik im Umland. Oben rechts ist das Gebäude in Hausen, in der Mitte links das Gebäude in Steinberg zu sehen.
Am heimischen Küchentisch
Frauen mit kleinen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen konnten in Heimarbeit weiterarbeiten. Die Wickel und das Rohmaterial wurde bei der Fabrik abgeholt, die Zigarren am heimischen Küchentisch fertiggestellt und am nächsten Tag in der Fabrik wieder abgegeben. Die Menge der ausgegebenen Deckblätter, die Anzahl der Wickel und die Menge der zurückgebrachten Zigarren und Restmaterial wurde genau im oben gezeigten "Entgeldbuch für Heimarbeit" notiert. Bezahlt wurde nach Stückzahl.
Jahres-Verdienst als Wicklerin in Akkord in der Fabrik in der Ludwigsstraße:
1950: 678 DM
1951: 1167 DM
1952: 1000 DM
1953: 1300 DM
1954 : 1600 DM
Die vier Arbeitsschritte für eine perfekte Zigarre
1. Entrippen
In den Fabriken wurde der Rohtabak meist auf dem trockenen Dachboden gelagert.
Zu Beginn eines Arbeitstags wurde das benötigte Material dort geholt. Aufbewahrt wurde es in der Holzkiste, auf der man saß, oder in einer Schublade unter dem Arbeitstisch.
Die Tabakblätter wurden mit einem scharfen Messer entrippt. Die Rippen wurden später als Einlage weiterverarbeitet.
2. Wickeln
Die Einlage wurde in größere Blätter gewickelt und in die Zigarrenformen gelegt. Die Formen wurden in eine Presse gespannt und erst mit der Hand, später maschinell 24 Stunden gepresst. Fielen die Wickel durch die Qualitätskontrolle, wurden sie wieder aufgelöst. Bezahlt wurde nur für Wickel, die weiterverarbeitet wurden.
3. Rollen
Nur besonders geschickte Arbeiterinnen durften die Wickel zu Zigarren weiterverarbeiten.
Die wertvollen Deckblätter mussten geschickt zugeschnitten werden.
Die Wickel wurden in das Deckblatt eingerollt. Das Deckblatt wurde mit ein bisschen Leim fixiert.
Zuletzt wurde die Binde um die Zigarre befestigt.
4. Sortieren
Das Sortieren der Zigarren nach Farbe und Qualität war die Aufgabe des Zigarrenmeisters.
(Die Mädchen tragen nur für das Foto evangelische Marburger Tracht.)